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Gründerzeit - die Phase des Graswurzelvertrauens

Eine Legende über die Entstehung des Internets besagt, dass die dezentrale Netzstruktur maßgeblich unter militärischen Erwägungen heraus entwickelt worden ist, um bei einem Nuklearschlag der Sowjetunion einen Ausfall von Kommunikationsstrukturen durch Redundanz zu verhindern. Tatsächlich scheint das nichts als eine Legende zu sein, wie Christoph Drösser im Interview mit Leonard Kleinrock, der Erfinder der paketbasierten Datenübertragung (s.u.), 2001 herausfand.

Die Advanced Research Projects Agency (ARPA) förderte damals in den USA im Auftrag des US-Verteidigungsministeriums Forschungsprojekte, aber in der Hauptsache wohl zivile.1). Der ARPA ist der Aufbau des ersten dezentralen Netzes zu verdanken. Primär hatte man Sinn, die damals arg begrenzten Rechnerkapazitäten an den verschiedenen Universitäten im Westen der USA besser auszunutzen. Im April 1984 war das sogenannte ARPANet bereits über die gesamte USA gespannt.

Von nun an wuchs das Netz rasant. Ende der 80er-Jahre gab es auch schon erste Leitungen nach Europa.

Interessanter als das Wachstum des Netzes in dieser Phase ist die Tatsache, dass es vorwiegend als Forschungsnetz konzipiert war und damit nahezu ausschließlich von wissenschaftlichen Institutionen genutzt wurde. Damit einher ging ein eng begrenzter Nutzerkreis mit überwiegend hohem Bildungsniveau und einem klaren, jeweils projektbezogenen Auftrag. Allein die Tatsache, dass Rechner- und Übertragungsressourcen eng begrenzt und teuer waren, dürfte für ein anderes Bewusstsein bei der Nutzung gesorgt haben. Dennoch gibt es auch schon in dieser Zeit Ansätze, dass das Netz auch teilweise zu einem sozialen Raum werden ließ. Gerade in der 90er Jahren gelangten die sogenannten Newsgroups zur Blüte, die man sich als Vorläufer der heutigen Internetforen und sozialen Netzwerke vorstellen kann - allerdings nur auf Basis von Text - später auch Dateianhängen.

Im Gegensatz zu einer Direktverbindung wie bei einer Telefonleitung muss bei einem Übertragungsnetz mit mehreren möglichen Transportwegen wie dem ARPANet immer wieder neu entschieden werden, welchen Weg Daten nehmen. Daher hat man schön früh Daten in kleinere Einheiten, den sogenannten Paketen, aufgeteilt, die der Sender einzeln losschickte und die jeweils auf einem anderen Weg ihr Ziel erreichten. Dort wurde die Pakete dann wieder zusammengesetzt. Pakete brauchen Metainformationen (z.B. Absender, Empfänger, Reihenfolge, Zeitstempel etc.), um beim Zielort anzukommen. Diese Metadaten sind bis heute unverschlüsselt und offenbaren viel über die Teilnehmer und ihre Art der Kommunikation.

Eine Absicherung oder die Wahrung der Privatssphäre der Kommunikationsteilnehmer war im ARPANet nicht im Fokus. Dank des begrenzten Nutzerkreises und der ebenso begrenzten Ressourcen war das zu damaliger Zeit schlicht nicht notwendig. Einige der damals üblichen höheren Übertragungsprotokolle haben bis heute überlebt, etwa die Art und Weise, wie die Metadaten von E-Mails (Absender, Empfänger, Transportwege und -zeiten) gesendet werden. Auch die heutigen SPAM-Mails sind im Kern durch eine zu vertrauensselige Konzeption des E-Mailprotokolls überhaupt in dieser Form möglich.

In der Zivilgesellschaft erfolgte derweil eine davon abgetrennte Parallelentwicklung. In den 1980er Jahren verbreiteten sich die ersten Homecomputer. Prominente und bis heute bekannte Vertreter sind der Commodore 64 (C64), der Amiga oder Atari ST. Ich selbst habe meine ersten Spiel- und Programmiererfahrungen ausgerechnet auf einem Applesystem (Apple II) gemacht. Diese Geräte waren sündhaft teuer. Wer sie erweitern wollte, musste gut programmieren und oft auch mit einem Lötkolben umgehen können. Einfache Systeme konnten sogar selbst aus einfachsten elektronischen Grundbauteilen zusammengebaut werden.

Durch Homecomputing kamen erstmals breitere Bevölkerungsschichten mit Computertechnologie in Verbindung. Im Unterschied zum ARAPNet waren diese Systeme jedoch technisch nicht vernetzt. Es gab lokale Vernetzungsansätze wie etwa Mailboxen, in die man sich per Telefonleitung einwählen und dann mit anderen Benutzern Daten austauschen und kommunizieren konnte. Aber diese ergänzten allenfalls persönlichen Kontakt und den physischen Austausch von Datenträgern.

Menschen der Homecomputingszene verstanden ihre Rechner teilweise von Grund auf, so wie die Wissenschaftler im ARPANet ihre Systeme und Protokolle von Grund auf verstanden. Einige von ihnen sollten die technischen Architekten des heutigen Internets werden, weil sich informatische Grundstrukturen über Jahrzehnte nicht wesentlich verändert haben. Das Technologie gesellschaftliche Auswirklungen haben würde, war damals noch unvorstellbar. Die einzige gesellschaftlich wahrnehmbare Tatsache war, dass es offenbar einen Kreis Menschen gab, die eine völlig andere Sprache verwendeten. Der Mythos vom „pizza- und colaverschlingendem Nerd“ war geboren.

Die Phase des Graswurzelvertrauens war damit geprägt von folgenden Entwicklungen:

  • Zivil- und Wissenschaftsnetze entwickelten sich unterschiedlich
  • Nur ein enger Benutzerkreis - sowohl zivilgesellschaftlich als auch in Wissenschaftsnetzen - nutzte digitale Technologie oder vernetzte Strukturen
  • Die meisten Nutzer verstanden, was sie taten. Sie hatten das Gefühl, Technologie zu kontrollieren und damit ein großes Selbstwirksamkeitsempfinden
  • Anzeichen, dass der Einsatz von Technologie auch kulturelle Auswirkungen haben könnte, waren erkennbar, wurden aber nicht reflektiert - es dominierte „Diving in“ als Grundhaltung
  • Das ARPANet war öffentlich finanziert und damit frei von kommerziellen Akteuren
  • Die paketbasierte Kommunikation legt den technologischen Grundstein für heutige Fehlentwicklungen im Netz

Hersteller von Software boten Anwendungsprogramme, aber auch erste Spiele feil und markierten dadurch zusammen mit den Hardwareherstellern den aus heutiger Sicht zarten Beginn einer Kommerzialisierung. Es entwickelte sich ein erster Markt für digitale Produkte.

1)
https://www.zeit.de/2001/28/200128_stimmts_internet.xml , Drösser, Christoph: „Eine bombige Legende“, erschienen auf zeit.de, abgerufen am 30.8.2019