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Der Staat und das personalisierte Internet

Spätestens seit Edward Snowden wissen wir, dass nicht nur Internetkonzerne personalisierte Daten sammeln. Auch staatliche Institutionen haben spätestens seit 9/11 ein großes Interesse daran, möglichst umfassende Informationen über ihre Bürgerinnen und Bürger zu erhalten - in totalitären Systemen mehr als in demokratischen Strukturen.

Um die Probleme der Überwachung öffentlicher Räume wissen wir. Wir wissen um die Problematik von Funkzellenabfragen (als Polizei alle Handydaten in der Umgebung eines Verbrechens auslesen) und wie wissen um die Möglichkeit totaler staatlicher Überwachung, wenn z.B. Schnittstellen zu sozialen Netzwerken von der Polizei anlasslos und ohne Richtervorbehalt genutzt würden. Im Kern läuft es immer auf ein Aushebeln der Unschuldsvermutung hinaus: Durch Überwachungsmaßnahmen geraten immer massenhaft unbeteiligte Menschen mit ihren Daten in den Fokus staatlicher Exekutivorgane. Für die Ausweitung staatlicher Befugnisse wird immer wieder ins Feld geführt, dass sich Kriminelle zunehmend im digitalen Räumen organisieren und der Staat hier handlungsfähig bleiben muss. Selbst in einer starken Demokratie wie Deutschland sind hier die Grenzen und Bedingungen noch lange nicht ausgehandelt.

Den Handlungen des Staates gegenüber sind wir nach meiner Beobachtung deutlich kritischer eingestellt als z.B. den Aktionen digitaler Großkonzerne - solange nicht eigene Handlungsfelder von uns Lehrenden betroffen sind.

Auch Schule ist in vielen europäischen Ländern eine staatliche Institution. Insbesondere durch die deutsche Schulpflicht wird in erheblicher Art und Weise in das Erziehungsrecht der Eltern eingegriffen, weil wir durch die Geschichte dafür eine ausführliche Folgenabschätzung als Gesellschaft vorgenommen haben.

Ausgerechnet im liberalen Schweden gab es in den letzten Jahren einen Vorfall staatlicher Überwachung in einer Schule 1). Die Anwesenheit der Schülerinnen und Schüler wurde in einer Klasse nicht durch Klassenbucheintragungen, sondern im Pilotbetrieb vollautomatisch durch Gesichtserkennung festgestellt. Aus einer einseitigen Perspektive klingt das Verfahren genial: Nie mehr lästige Blicke am Anfang der Stunde, nie mehr verlorene Unterrichtszeit und dadurch eine große Entlastung der jeweiligen Lehrkraft. Der Preis dafür ist die Speicherung und Verarbeitung biometrischer Daten von Kindern und Jugendlichen. Wer garantiert dafür, dass das nicht in „der Cloud“ geschieht? Wer garantiert dafür, dass diese Daten auch künftig allein auf die Schule beschränkt bleiben? Wie handle ich pädagogisch bei einem Schüler, der zu Hause arge Probleme hat und daher oft verspätet oder gar nicht kommt? Daten lügen nicht. Ab einer bestimmten Fehlquote gilt u.U. für diesen Schüler ein Fach als unbelegt - mit u.U. weitreichenden, sich verschärfenden Folgen für seine Zukunft.

Auch Lehrplattformen sind prinzipiell Instrumente, die geeignet sind, personalisierte Daten von Schülerinnen und Schülern zu erfassen. Lehrplattformen unterscheiden sich für mich von Lernplattformen dadurch, dass vom Design her bei Lehrplattformen die Lehrkraft bestimmt, was eine Schülerin oder ein Schüler auf der Plattform „darf“ - bei z.B. Mahara oder Wikis ist das grundsätzlich anders. Lehrplattformen sind natürlich attraktiv, weil sie - mit Bedacht eingesetzt - große Transparenz darüber schaffen, auf welchem Lernstand sich eine Schülerin oder ein Schüler befindet - dadurch fallen zumindest in der Theorie weniger Menschen durch das Raster und es wird eine individuelle Förderung möglich. Leider scheitert eine tatsächliche Umsetzung meist an menschlichen Ressourcen, die im Gegensatz zu algorithmischen nicht unbegrenzt skalieren.

Lange Zeit habe ich Blogsysteme als Lehrplattformen verwendet. Blogsysteme ermöglichen u.a., dass Texte online erstellt werden und für alle Mitglieder einer Lerngruppe sichtbar sind. Das hatte für mich als Lehrperson immense Vorteile:

  • Ich wusste schon am Abend vorher, welche Fehlerschwerpunkte in der Lerngruppe auftreten und konnte für die Stunde gezielt Übungsmaterial zusammenstellen
  • Durch das Blog war ich nicht an Dateiformate gebunden und konnte querlesen – endlich kein x‑faches Geklicke mehr in der Hoffnung, dass meine Textverarbeitung das aktuelle Microsoftformat frisst.
  • Durch den Beitragszähler bei den Autorennamen wusste ich ganz genau, wer in welchem Umfang gearbeitet, bzw. die Hausaufgabe überhaupt erledigt hat.
  • Gerade für stillere Schülerinnen und Schüler war von Vorteil, dass ihre Leistungen dokumentiert waren und für die Benotung der „sonstigen Leistung“ mit herangezogen werden konnte. So wurde niemand dafür „bestraft“ im Unterricht still zu sein.
  • Durch die Sortierung nach Autoren entstanden nach und nach Portfolios, die auch dabei halfen, Schülerinnen und Schülern Entwicklungen in ihren Schreibfertigkeiten aufzuzeigen.

Ein Schüler äußerte sich kritisch zu diesem Ansatz - sinngemäß in etwa so:

„Herr Riecken, zu Ihrer Bloggerei mit uns, muss ich Ihnen mal ein paar Dinge sagen. Immer wenn ich eine Hausaufgabe innerhalb des Blogs erledige, fühle ich mich genötigt, das besonders zeitaufwendig und gut zu machen, weil es eben für immer und ewig dort stehenbleibt. Das kostet mich Zeit und ist im Vergleich zum normalen Heft einfach unglaublich aufwändig. Außerdem werde ich ja immer 'erwischt', wenn ich etwas nicht erledigt habe. In einer normalen Unterrichtsstunde kann ich hoffen, einfach nicht dranzukommen – es gibt neben den ganzen Hausaufgaben schließlich immer noch sowas wie ein Leben – gerade in Zeiten von G8. Zu dieser ganzen Portfolio- und 'Sonstige Leistungen'-Geschichte: Machen Sie das mit allen Ihren Schüler*innen? Um Klausuren zu korrigieren, brauche Sie doch jetzt schon eher Wochen als Tage. Sie schauen sich ernsthaft für alle Ihre Schülerinnen und Schüler die Schreibentwicklung an? Hallo? Wachen Sie mal auf und kommen Sie in der Realität an. Kriegen Sie mal Ihre tägliche Verwaltungsarbeit in den Griff, bevor Sie hier Ihr Traumtänzerzeug mit uns machen!“

Ich denke, dass kann man unkommentiert so stehen lassen. Momentan werden große Hoffnungen darauf gesetzt, in Lehrplattformen weitgehend automatisiert „Wissen“ und sogar „Kompetenzstände“ kleinteilig zu überprüfen. Entsprechend der Ergebnisse würden dann den Schülerinnen und Schülern „individuell“ neue Lehrinhalte präsentiert. Nebenbei entstehen bei diesem Ansatz Unmengen an personalisierten Daten, die für die weitere Zukunft eines Individuums von Bedeutung sein könnten, würden sie z.B. im Sinne einer kapitalistisch konzipierten Algorithmik verarbeitet und die dabei gewonnenen Daten später an potentielle Arbeitgeber veräußert - im Sinne der Schutzbedürftigkeit von Kindern und Jugendlichen wird man hier sehr genau hinschauen und demokratisch kontrollierbare Regelungen finden müssen.

1)
https://netzpolitik.org/2019/gesichtserkennung-statt-klassenbuch-schule-in-schweden-kassiert-strafe/ , Reuter, Markus: „Gesichtserkennung statt Klassenbuch: Schule in Schweden kassiert Strafe“, bei: netzpolitik.org, abgerufen am 15.9.2019