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Typografie - das Zeitalter des Leitmediums (Buch-)Druck

Mit der Erfindung des Buchdrucks um 1440 durch Johann Gutenberg war es möglich, Text zu vervielfältigen. Vorher wurden Kopien von Texte aufwändig in z.B. klösterlichen Schreibstuben angefertigt, wobei auch grafische Gestaltungselemente eine große Rolle spielten. Das war in den Anfängen des Buchdrucks alles andere als trivial. Die Gutenbergbibel musste im Vergleich zu handschriftlichen klösterlichen Abschriften aus dem Mittelalter nahezu schmucklos-nüchtern auf die lesekundigen Zeitgenossen gewirkt haben. Farbige Magazine, wie sie heute als Wegwerfprodukte millionenfach produziert werden, waren lange Zeit undenkbar.

Diese einfache Beobachtung zeigt, dass hinter dem für uns heute selbstverständlichen typografischen Verfahren eine immense technologische Entwicklung steckt - vom einfachen Drucksatz mit Bleilettern über rein fotografische hin zu digitalen Belichtungsverfahren bei der Erstellung der eigentlichen Druckvorlage. Aber ein technologischer Blick auf den Buchdruck reicht nicht aus, um seine Bedeutung für z.B. die mitteleuropäische Kultur zu erfassen.

Was wir heute gerne außer Acht lassen, ist die Tatsache, dass es sich bei der Typografie um eine Technologie handelt, bei der es geraume Zeit gebraucht hat, bis sie z.B. emanzipatorische gesellschaftliche Entwicklungen beförderte. Man sieht das recht gut auf dieser Grafik, die die thematische Verteilung von Bücher auf dem Londoner Buchmarkt um 1700 darstellt - also immerhin 250 Jahre nach der Erfindung des Buchdrucks.

Londoner Buchmarkt um 1700 - Lizenz CC-BY (Olaf Simons)

Der Londoner Buchmarkt wird zu einer guten Hälfte von Büchern zu „Divinity“ (religiöse Schriften) bestimmt. Die Natur- und Geisteswissenschaften, die wir heute eng mit dem Buchdruck verknüpft sehen, spielten eine untergeordnete Rolle. Mit die allerersten Druckerzeugnisse waren Ablassbriefe:

„Ablassbriefe waren einseitig mit einem formelhaften Text in der Donat-Kalender-Type bedruckt, und die ersten Auflagen erschienen auf Pergament. Nach dem Kauf musste der Gläubige nur noch seinen Namen in das vorgesehene Feld eintragen und ihn bei der nächsten Beichte abgeben. Daraufhin wurden ihm Sündenstrafen erlassen. Die durch den Buchdruck geschaffene Vervielfältigungsmöglichkeit ermöglichte eine hohe Auflage und weite Verbreitung. Ein bis heute erhaltenes Exemplar ist durch eine handschriftliche Notiz auf den 22. Oktober 1454, ein weiteres auf den 26. Januar 1455 datiert.“ 1)

Die Kirche als Institution bestimmte lange maßgeblich, was in welchem Umfang veröffentlicht wurde - quasi ein „historisches Google“ mit immenser „Marktdurchdringung“. Stück für Stück entdeckten aber auch staatliche Institutionen die Möglichkeiten der neuen Technik.

Der mehr oder minder flächendeckende Einsatz des Buches im „Bildungswesen“ kommt mit der allgemeinen Schulpflicht im 17. Jahrhundert. Das in diesem Kontext oft zitierte Preußen führte 1717 eine allgemeine Unterrichts- jedoch keine Schulpflicht ein, was bis zum Jahr 1918 auch so bleiben sollte 2). Das Interesse absolutistischer Herrscher der damaligen Zeit an einer schulisch gebildeten Bevölkerung dürfte sich eher mit Blick auf die erstarkenden Institutionen (u.a. Verwaltung, Militär) entwickelt haben - auch hier ging es zunächst weniger um das freie Individuum, als um die Ausbildung staatlicher und militärischer Funktionsträger. Der Bedarf an derartigen Arbeitskräften konnte nicht allein durch den Adelsstand gedeckt werden. Gleichwohl sollte sich historisch daraus das später erstarkende Bürgertum entwickeln. Ohne die Technologie „Druck“ wären diese Vorgänge zumindest erheblich erschwert gewesen.

Es lässt sich aber jetzt schon etwas Wichtiges zeigen: Typografie als neues Leitmedium nützt zunächst eher den etablierten Institutionen wie der Kirche oder dem Staat. Sie verfügen über die Systeme, um zunächst Inhalte und deren Verbreitung zu kontrollieren. Emanzipatorische Entwicklungen brauchen noch Zeit, aber sie geschehen.

Typografie war Voraussetzung für noch eine weitere Entwicklung, die das Internet im Laufe seiner Geschichte immer mehr bestimmt hat, wie Sie im nächsten Teil dieses Buches noch ausführlicher sehen werden. Mit der Typografie erstarken die Märkte. Dabei sind keinesfalls die auch schon im Mittelalter bestehenden Verkaufsmärkte in Städten gemeint, sondern das, was wir heute meinen, wenn wir z.B. von „freien Märkten“ sprechen.

Verschiedene Institutionen interagieren in Märkten miteinander: Um z.B. das europäische Kolonialsystem aufzubauen, bedurfte es u.a. Staaten, Banken, Börsen, wirtschaftliche Gesellschaften u.v.m.. Damit untereinander Informationen schnell ausgetauscht werden konnten, war die Typografie als ökonomisches Instrument dafür unverzichtbar. Stellen Sie sich eine Zeitung mit tagesaktuellen Aktienkursen ohne Drucktechnik vor, Genehmigungsvorgänge ohne gedruckte Formulare oder natürlich auch die Verbreitung von Wissen und Kultur ohne gedruckte Bücher! Vieles wäre auch allein auf skriptologischer Technologie denkbar - wie nicht nur das römische Reich historisch zeigt. Aber die Effizienz und Geschwindigkeit ist dabei eine andere. Mit dem Druck „skalieren“ Prozesse auf einmal: Sie konnten Schulbücher in weit entfernte Kolonien exportieren, es war möglich, tagesaktuelle Nachrichten an viel mehr Menschen als je zuvor zu verteilen - alles unbedingte Voraussetzungen für funktionierende Märkte - und letztlich auch den Kapitalismus als bald marktbeherrschende Funktionslogik dahinter.

Es wäre aber mehr als verkürzt, den Druck allein als Wegbereiter des Kapitalismus zu begreifen. Durch und mit ihm entwickelten im mitteleuropäischen Raum z.B. Literatur und Musik zu einer vorher nie denkbaren Blüte. Zunehmend dominierten ab 1700 weltliche Inhalte den europäischen Buchmarkt. Bis heute haben z.B. die Werke von Schiller und Goethe im schulischen Literaturkanon einen festen, kaum wegdenkbaren Platz. Warum welcher Autor jedoch zu Bekanntheit gelangte, war schwer vorhersehbar und hing nicht selten von Zufällen ab. Dass der Buchdruck für die Verbreitung eine gewichtige Rolle spielte, scheint hingegen sicher.

Die Typografie als neue Kulturtechnik verlangte im Gegensatz zur Skriptografie nach nochmals erweiterten Fähigkeiten.

  • Die Fähigkeit externe Gedankenmuster in eigene Gedankenstrukturen zu übertragen
  • Die Bewertung von Texten auf unterschiedlichen Ebenen (z.B. sachlich, ästhetisch, im Hinblick auf die Herkunft)
  • Die Entwicklung erster Filterstrategien für z.B. unzuverlässige Informationen (z.B. in pietistischer Erweckungsliteratur)
2)
Hans-Georg Herrlitz, Wulf Hopf, Hartmut Titze, Ernst Cloer: Die Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart. 5. aktualisierte Auflage. Juventa, Weinheim und München 2009