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Beispiel 1: Medienpädagogische Kurzgeschichte

Damit es nicht zu theoretisch wird, möchte ich gerne von einem Beispiel ausgehen, was klare Bezüge zum traditionellen Deutschunterricht aufweist. Dazu habe ich eine Kurzgeschichte verfasst, die im Kontext eines realen Ereignisses steht.

Der Kontext ist vielen Lehrkräften meist nicht oder nur am Rande bekannt, aber die Textform Kurzgeschichte knüpft an konkrete Wissenbestände von Lehrpersonen an. Das wird auch an den Aufgaben zum Text deutlich:

  1. Fasse den Inhalt der Geschichte in eigenen Worten zusammen.
  2. Warum handelt es sich bei diesem Text um eine Kurzgeschichte?
  3. Verfasse einen inneren Monolog, in dem Sylvie ihre Lage darstellt.
  4. Recherchiere mit den Suchbegriffen „Target, Schwangerschaft, Big Data“ nach den Hintergründen der in der Geschichte dargestellten Handlung. Erstelle eine Präsentation, die erklärt, wie Dritte u.U. von Sylvies Lage wissen konnten.
  5. Nimm Stellung zu diesem Artikel
  6. Wie bewertest du abschließend die Möglichkeit, mit Hilfe von Big Data derartige Informationen über Menschen erhalten zu können?

Die Aufgaben 1-3 sind prinzipiell auch nur auf Basis des Textes möglich, man kommt damit zu einem Ergebnis. Fundierter und zusätzlich medienpädagogisch auf sehr differenzierten Niveaus wird es jedoch erst, wenn man den Kontext mit hinzuzieht.

Der Kontext

Die US-Drogeriemarktkette „Target“ hat einen Weg gefunden, durch Verknüpfung von Kundendaten, elementare Veränderungen im Leben ihrer Kunden zu bestimmen - in diesem Fall die Schwangerschaft inkl. des voraussichtlichen Entbindungstermins. Bezeichnenderweise ist die Originalquelle von Charles Duhigg bereits auf das Jahr 2012 zu datieren - für Internetmaßstäbe nahezu historisch.

Das haben öffentlich-rechtliche Sender schon vor einiger Zeit recherchiert. Dazu ist die Verknüpfung vieler Daten notwendig, u.a. müssen auch Kredit- oder EC-Kartenumsätze zwingend mit erfasst werden.

Die mögliche „Gegenwehr“ einer Soziologin umfasste folgende Maßnahmen:

  1. Sie instruiert Freunde und Bekannte auf sozialen Medien, ihre Schwangerschaft nicht preiszugeben
  2. Sie anonymisiert ihren Datenverkehr beim Einkauf im Internet aufwändig
  3. Sie zahlt ihre Einkäufe grundsätzlich mit Bargeld
  4. Sie verwendet auf Amazon eine selbstgehostete E-Mailadresse unds keine von Gmail, da Google standardmäßig Nachrichten auf Schlagworte hin untersucht.
  5. Sie bezahlt auf Amazon mit Gutscheincodes
  6. Sie lässt sich Ware grundsätzlich an eine Packstation liefern
  7. Sie muss Beträge über 500 Euro wegen des Verdachts der Geldwäsche auf mehrere Personen aufteilen, um z.B. einen Kinderwagen bestellen zu können

Das Fazit der Soziologin lautete:

„Wer die elektronischen Spuren seiner Schwangerschaft verwischen will, muss sich so verhalten, wie es Kriminelle tun würden, die ein Verbrechen vertuschen wollen.“ (Quelle: Die Zeit)

Zurück zur Kurzgeschichte

Ich denke, dass sehr deutlich wird, wie z.B. der innere Monolog von Sylvie (Aufgabe 3) an Substanz und Tiefe gewinnt, wenn den Schülerinnen und Schülern der Kontext durch z.B. eine eigene Recherche zugänglich ist.

Durch die Aufgabe 4 werden zunächst vordergründig die Kompetenzbereiche „Recherchieren & Analysieren“ sowie „Präsentieren“ aufgedeckt, durch Aufgabe 6 dann der Bereich „Medienethik“.

Wenn die Recherche in Aufgabe 4 jedoch fundiert und auch unter Berücksichtig englischsprachiger Internetseiten durchgeführt wird, stößt man auch auf Artikel, die die Darstellung der Fähigkeiten von Target sehr kritisch sehen.

Ein Zitat:

„Beyond this […] the New York Times article itself provides another factoid making it even less likely the teen's pregnancy had been determined analytically (if „determined“ by Target at all - perhaps the particular teen was simply placed accidentally into the wrong marketing segment): Target knows consumers might not like to be marketed on baby-related products if they had not volunteered their pregnancy, and so actively camouflages such activities by interspersing such product placements among other non-baby-related products. Such marketing material would by design not raise any particular attention of the teen's father. “

(Quelle: kgnuggets.com)

Sinngemäß übersetzt:

Abgesehen davon enthält der Artikel in der New York Times selbst einen Fakt, der es weniger wahrscheinlich macht, dass die Schwangerschaft des Teenagers algorithmisch ermittelt wurde (wenn das überhaupt von Target so ermittelt wurde - vielleicht wurde der Teenager auch irrtümlich dem falschen Werbebereich zugeordnet): Target weiß, dass Kunden es eventuell nicht mögen, Werbung über Babyprodukte zu erhalten, wenn sie ihre Schwangerschaft nicht freiwillig offenbart haben. So tarnt Target solche Aktivitäten dadurch, dass auch andere Produkte in der entsprechenden Werbung platziert werden. Derartiges Werbematerial würde aber schon vom Ansatz her eben gerade nicht die spezielle Aufmerksamkeit des Teenagervaters erregen.

Komme ich mit einer Lerngruppe dahin und würde dieser Aspekt Teil der Abschlussdiskussion, wäre dann das gesamte Fass eines Unterrichts im Kontext des digitalen Zeitalters geöffnet, weil es dann nicht mehr nur allein darum geht, ob Big Data „böse“ oder „gut“ ist, sondern darüber hinaus um die Frage, ob der Darstellung in der medialen Welt uneingeschränkt zu trauen ist. „Das ZDF“ und „Die Zeit“ sind ja nicht dafür bekannt, schlechten Journalismus zu machen.

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